Dienstag, 2. Oktober 2012

Von der Mission Kaspar Hausers: Ungeschriebene Geschichte und die aktuellen Aufgaben im 21. Jahrhundert. Ein erster Rückblick auf die Wangener Michaeli-Tagung


Ein rätselhafter Blick auf das Kind Europas
 von A. Lucas, Kunstsammlungen Weimar
Am zurückliegenden Wochenende gedachten wir des 200. Geburtstages Kaspar Hausers. Dazu sind an mehreren Orten Menschen in Tagungen und zu Vorträgen zusammengekommen; so auch in der Pauluskirche in Wangen. Dort war von Freitag bis Sonntag - im Zusammenwirken des Internationalen Kulturzentrums Achberg mit der Christengemeinschaft in Wangen und dem dort ansässigen Kaspar-Hauser-Zweig der Anthroposophischen Gesellschaft - zum Thema “Kaspar Hauser - Das Kind Europas. Schicksalsrätsel unseres Kontinents” eingeladen worden.

Der für die Welt erwachte Kaspar Hauser
Pastell von J. F. C. Kreul, ca. 1830
Beim Abschlussplenum dieser Tagung habe ich den Versuch gemacht, in elementarer Weise zusammenzufassen, was da vor 200 Jahren eigentlich geschehen ist mit dieser Tat der Geburt des Kronprinzen auf dem Thron des Großherzogtums Baden:

Kaspar Hausers Geburt am Michaelstag des Jahres 1812 steht am Beginn eines ganz markanten Jahrhunderts, von dem man sagen kann, dass mit ihm ein umfangreicher Umschwung in der Geschichte der Menschheit verbunden ist. Über all die Jahrtausende unserer “nachatlantischen Kultur” (wie wir das aus der Forschung Rudolf Steiners kennenlernen können) wurde die Menschheit geführt, geführt von Halbgöttern und Pharaonen, von Priestern und Demiurgen, von Cäsaren und Königen. Und aus dieser Geschichte tritt dann die Menschheit im 15. Jahrhundert ein in die fünfte nachatlantische Kulturepoche, in das sogenannte “Bewusstseinsseelen-Zeitalter”. Da wurde dann zunächst noch einmal das Vorangegangene wiederholt, rekapituliert, um in diesen Rekapitulationen, Schritt für Schritt, über Humanismus und Renaissance, über Reformation und Glaubenskriege, hin zu Absolutismus und Aufklärung, in die Zeit der Französischen Revolution hineinzukommen und von da aus ins 19. Jahrhundert. Jetzt wird die Menschheit sozusagen in die Freiheit entlassen! Und da steht sie nun empfindungsmäßig “gegenüber dem Nichts”, wie Rudolf Steiner dies einmal charakterisierte (am 4. Oktober 1922).

B.H. Mayer's Kunstprägeanstalt
Pforzheim - Jahresmedaille 1983

In diese Zeitkonstellation tritt nun ein Wesen ein, ein Menschenkeim von dem man annehmen darf, dass er wie “zurückbehalten” wurde, sodass er all diese nachatlantischen Jahrtausende selbst nicht auf der Erde inkarniert war, sondern an einem “anderen Ort” vorbereitet wurde, um dann vor 200 Jahren hier in Mitteleuropa, in Karlsruhe, in einem Menschen geboren zu werden, der in dieser Umschwungszeit von einem Thron her, also von dort her, von wo durch all diese Jahrtausende die Führung der Menschheit ausging, die Brücke hätte bilden sollen in ein neues Zeitalter, in dem nun die Menschheit selbst die Verantwortung für ihr Schicksal zu übernehmen gehabt hätte und noch hat.

Und diese Wende-Zeit, in die sich dieser Menschenkeim hineinsenkte, ist vorbereitet worden, durch eine Zahl von Individualitäten (Goethe, Schiller, Hölderlin, Herder usw.), die zusammengekommen sind in der historischen Epoche der Weimarer Klassik, die - wie Ferdinand Lassalle bemerkte - nur wie im Kranichflug über Europa hinwegzog, die nicht wirklich landen konnte. Diese genannten Persönlichkeiten kamen im 18. Jahrhundert zusammen, um in geistig-seelischer Hinsicht vorzubereiten, was jetzt durch Kaspar Hauser zusammengefasst hätte werden sollen auch in einer neuen Sozial-Gestalt, durch die und in der die neue menschheitliche Verantwortung sozial, politisch, gesellschaftlich hätte ergriffen werden können; begleitet durch einen “Letzten” auf einem alten Thron oder durch einen “Ersten”, der einen “neuen Fürstenbegriff” (Karl Heyer) verkörpert. Rudolf Steiner charakterisiert dieses Neue dadurch, dass er - überliefert durch Ludwig Polzer-Hoditz - sagt: Süddeutschland hätte werden sollen die neue Gralsburg. Nicht in Süddeutschland, sondern der gesellschaftliche Raum Süddeutschland selbst hätte diese Gralsburg bilden sollen. Und sie wäre die “Wiege” gewesen für alles Künftige.

Diese Mission Kaspar Hausers, die sich so hineinstellt zwischen Vorbereitetes und Werden-Wollendes wird aus Widersacherkräften abgeschnitten, vernichtet. Es findet der Versuch statt, sie nichtig zu machen, indem dieses Kind nach der Geburt vertauscht und später in einen Kerker gesteckt wird, um es dort wie in einem Schwebezustand festzubannen. Und jetzt hören wir immer wieder - zurecht-, dass Kaspar Hauser dennoch, als er dann 1828 in Nürnberg aus der Verbannung wieder auftaucht, ein Leben ergreift, das auch das “Rettende” in sich trägt, indem sich über fünf Jahre seine “Wesensart” so offenbart, dass er selbst noch auf dem Sterbebett seinen Mördern vergibt. Davon wird oft gesprochen, sozusagen von einer - wie wir in der Einladung zur Tagung geschrieben haben -, “verhinderten und in verwandelter Gestalt doch erfüllten Mission”.

Aber wir sollten dabei bedenken, wie wir dieses Verwandelte “mitnehmen” können für das Wirken in den gesellschaftlich-historischen Herausforderungen, vor die wir im Sinne der menschheitlich gewordenen Verantwortung ja noch immer gestellt sind. Denn es ist ja nicht so, dass dieser Umschwung, den Kaspar Hauser in der vorbereiteten Weise nicht von einem Thron her hatte begleiten können, nicht dennoch stattgefunden hätte. Er hat stattgefunden. Wir sind heute als Menschheit verantwortlich für unser gesellschaftliches Leben. Wir sind in unserem Gewissen und in unserer Verantwortung dem “sozialen Organismus” (Rudolf Steiner) gegenüber nicht mehr geführte Wesen. Und wo es dennoch geschieht, dass einer die Führung in dieser Hinsicht an sich reißt, führt es zu Katastrophen.

So stellt sich weiterhin und auf’s Ganzen gesehen noch unbeantwortet die Frage, wie wir dazu kommen, in allen gesellschaftlichen Bereichen, im wirtschaftichen Leben, im geistig-kulturellen Leben, im rechtlich-politischen Leben und in den Gestaltungen der monetären und kommunikativen Prozesse, dass die Menschheit in voller Souveränität dafür die Verantwortung übernehmen und tragen kann. Wir kann uns die in verwandelter Weise ergriffenen Mission Kaspar Hausers dafür etwas mitgeben? Also nicht abstrakt nur sagen: “Ja, Kaspar Hauser hat trotz des Versuches, ihn zu vernichten, seine Aufgabe erfüllt!” und damit zufrieden zu sein. Nein, wie kann uns Kaspar Hauser etwas sein, woran wir uns als an einer Quelle “laben” können für unsere menschheitliche Aufgabe? Denn die Aufgabe besteht weiterhin.

In der Arbeitsgruppe - Kaspar-Hauser-Tagung, Michaeli 2012
Dies war der Versuch, am Ende der Tagung prägnant zusammenzufassen, was auch die Quintessenz war der Betrachtungen in meiner Arbeitsgruppe, wo die Schicksalsfäden zwischen Kaspar Hauser und Richard Wagner beleuchtet wurden und wo an dem Werk und Wirken des Letzteren etwas bemerkbar werden konnte von dem, was durch das Verbrechen an Kaspar Hauser “ungeschriebene Geschichte” (Karl Heyer) bleiben musste. Dies soll noch schriftlich ausgearbeitet werden.

Ergänzung 22. Oktober 2012: In der aktuellen Ausgabe von "Ein Nachrichtenblatt" ist ein ausführlicherer Tagungsbericht von mir und Loes Swart erschienen. Hier das ››› PDF dazu.
Weitere Berichte und Zusammenfassungen auf: www.kulturzentrum-achberg.de/michaeli-2012

1 Kommentar:

  1. Ich habe an der Kaspar-Hauser-Tagung in Wangen teilgenommen und finde es sehr gut, wie hier von Gerhard Schuster Wesentliches, was auch in seine Arbeitsgruppe ein wichtiger Teil war, nochmal zusammengefasst wird. Dieses hilft mir, es besser ins Bewusstsein zu heben und dadurch auch vertiefen zu können.

    Für die, die nicht die Möglichkeit hatten, an der Tagung teilzunehmen, gibt dieser kurze Bericht die Möglichkeit, sich doch etwas von dem zu eigen zu machen, worum es hier geht: Sich mit dem Schicksal Kaspar Hausers einerseits zu verbinden in seiner Tragik und Dramatik, wodurch die Mitleidskräfte erweckt werden können, andererseits für das Hier und Jetzt, für die Nöte der Zeit, Perspektiven zu finden.

    Durch diesen Bericht kann die Beschäftigung mit Kaspar Hauser ein Unterfangen werden, das immer weiter vertieft werden kann, sowohl nach innen (kontemplativ), als auch außen (wie ein Teilnehmer während der Tagung dieses mit dem Wort zusammenfasste: „anthroposophischer Aktionismus“).

    Der Aspekt der Beziehung zwischen Kaspar Hauser und Richard Wagner, der ein genaueres Licht werfen kann auf die Aufgaben von damals und von heute, ist in dieser Zusammenfassung ja noch nicht weiter ausgeführt. Ich freue mich, wenn es noch folgt. Die Arbeit in der Arbeitsgruppe dazu war sehr spannend und scheint mir genauso wichtig zu sein.

    Loes Swart

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